Ein modernes Cochleaimplantat erlöste mich vom Dauer-Tinnitus

Patientin_GeigeNervig. Mitgefühl scheint keine besondere Eigenschaft des kleines Mannes im Ohr zu sein, der sich im Herbst 2003 das erste Mal bei Monika Hedstrom „zu Wort meldet“. Sonst hätte er seinen nervigen Warnton auch schon zwei Monate zuvor erschallen lassen können. Damals am 25. September, als die US-Studentin mal kurz von der Uni zum Schreibwaren-Laden im New Yorker Stadtteil Brooklyn unterwegs war.

Unfall. „Ich wollte zurück zur Uni, als mich ein Busfahrer beim Linksabbiegen auf dem Fußgängerübergang übersah“, erinnert sich Monika an den folgenschweren Unfall. „Nicht nur die Tüte mit den gekauften Schreibwaren flog auf den Asphalt. Auch ich wurde vom Bus – Kopf voraus – aufs Pflaster gestoßen.“

Patientin_CochleaImplantatLebensgefahr. Wegen des schweren Hirntraumas versetzten die Ärzte die junge Frau in der Klinik umgehend ins künstliche Koma. Ein dramatischer Kampf auf Leben und Tod begann – inklusive Blutvergiftung und hohem Fieber. „Als ich nach sieben Wochen die Klinik verließ, war es mein kleinstes Problem, dass ich mit dem linken Ohr schlechter hörte.“

Nervig. In der Reha lag Monikas Fokus erst einmal darauf, sich in qualvoller Kleinarbeit das alte Leben zurückzuholen. Und ausgerechnet in dem Moment, als sich die ersten Erfolge einstellen, setzt dieser tückische Ton im Kopf ein. „Tinnitus“, erkärte ihr ein Ohren-Arzt damals. „Das bedeutet: Sie hören Geräusche, die real nicht da sind.“

Anpassung_Implantat6Feinfühlig. Als Ursache vermutet der Facharzt unfallbedingt einen feinen Haarriss im Innenohr. Hier in der Hörschnecke wirbelt der Schall die Liquor-Flüssigkeit zu kleinen Wellen auf, die wiederum die Haare der Hörzellen wie Seegras im Meer hin- und herbewegen. So werden – wenn’s gut läuft – aus Schall Nervenimpulse.

Leck. Bei Monika Hedstrom läuft es leider nicht gut. Durch den Haarriss verliert das Innohr Flüssigkeit. Die Schallübertragung leidet – und nicht nur das. Durchs Ausbleiben von Hörimpulsen „langweilt“ sich das Gehirn und beginnt Höreindrücke selbstständig zu „erfinden“.

Implantation_Computertomografie3Reparatur. „2004 und noch einmal 2006 versuchte man das Leck per OP zu finden und zu verschließen – leider erfolglos“, berichtet Monika, die 2008 für ihr Architektur-Studium nach Berlin übersiedelt. „Kurz nach beiden Eingriffen setzten die Ohrgeäusche wieder ein. Rund um die Uhr. Mal hoch und mal tief.“

Ersatz. Die ambitionierte Freizeit-Musikerin, die seit ihrem dritten Lebensjahr Geige spielt und sich als Orchester-Violistin ganz erfolgreich was zum Studium hinzuverdient, will den „kleinen Mann im Ohr“ zunächst ignorieren. „Ich hatte ja noch mein rechtes Ohr, wollte das Problem nicht größer machen, als es war. Dafür hatte der Unfall mir deutlich gemacht, wie kostbar das Leben ist“, sagt sie.

Beratung_Implantatmodell3Dumm. Aber als das Restgehör links rapide nachlässt, wird es immer schwerer, das Handicap zu ignorieren. Das Problem: Monika Hedstrom hört zwar auf dem rechten Ohr ganz gut. Doch die Phantom-Geräusche überlagern die realen Schallquellen. „Wenn mehrere Menschen auf einmal sprachen, wurde es richtig schwer. Mit Freunden abends ins Restaurant oder in die Bar zu gehen, war irgendwann mehr Qual als Vergnügen. Wenn alle wie wild durcheinandersprachen, saß ich quasi taub und stumm da – und fühlte mich irgendwie dumm.“

Termin. Zunächst fragt Monika beim Hörgeräte-Akustiker um Hilfe. Aber für ein herkömmliches Hörgerät ist der Verlust bereits zu weit fortgeschritten. „Deshalb wandte ich mich an eine niedergelassene HNO-Ärztin. Nach einigen Hörtests und einer Untersuchung im Kernspin stand fest, dass ich ein Fall für ein Cochleaimplantat war. Ich bekam die Adresse der Charité. Keine drei Wochen später stellte ich mich in der CI-Sprechstunde der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohren-Heilkunde von Professorin Heidi Olze vor.“

Expertin_CochleaEntwicklung. „Während Ende der 1970er Jahre die ersten Mehrkanal-Innenohrprothesen bei beidseitig ertaubten Erwachsenen implantiert wurden, wurde ab 1987 die ersten Kinder mit angeborenem hochgradigem oder vollständig beidseitigem Hörverlust mit einem Cochleaimplantat versorgt. Aufgrund der positven Ergebnisse kamen schon bald Jugendliche und Erwachsene mit hochgradiger Schwerhörigkeit oder Ertaubung nach Spracherwerb dazu“, berichtet die Expertin, die bereits über 1.000 CIs implantiert hat. „Seit der Jahrtausendwende geht man zudem zur beidseitigen Versorgung über. Aufgrund der jahrzehntelangen Erfahrung ist es nicht mehr notwendig, ein ,Reserveohr’ zu erhalten. Nächster großer Schritt ist nun der Einsatz des CIs auch bei einseitiger Schwerhörigkeit u.a. durch Hörsturz oder auch bei Tinnitus.“

Implantation_OP-Mikroskop9Fortschritt. Motor hinter dem vermehrten Einsatz ist der technische Fortschritt: Moderne Hörimplantat-Systeme sind viel kleiner als früher. Der externe Teil des Innenohr-Ersatzes kann inzwischen wie ein kleines Hörgerät hinterm Ohr getragen werden, besteht aus Mikrofon und Sprachprozessor.

Schnell. „Das eigentliche Implantat ist nur noch wenige Millimeter dünn und umfasst Empfangsspule, Stimulator und Elektroden. Letztere werden in einer guten Dreiviertel- bis ganzen Stunde unter die Kopfhaut in den Schädelknochen und die Hörschnecke eingepflanzt“, erklärt Professorin Heidi Olze.

Beratung_Implantatmodell4Auswahl. Vor der Implantation muss sich Monika noch zwischen den drei unterschiedlichen Hörsystemen am Markt entscheiden. „Ich wählte das Cochleaimplantat Synchrony“, berichtet sie. „Ausschlaggebend war, dass von außen nur ein kleines, rundes Gerät angesetzt wird, das vollkommen unter meinem Haar verschwindet. Beim ersten Eindruck wollte ich nicht von meinem Gegenüber auf meine Hörprobleme reduziert werden.“

Implantation_Computertomografie2Schonend. Um die natürlichen Strukturen so weit wie möglich zu schützen, wird bei Monika Hedstrom nur über einen winzigen Schlitz die Hörschnecke eröffnet. Mit Hilfe eines 3D-Mikroskops führt die Operateurin die silikonummantelte Elektrode ins Innenohr ein. Nach einem ersten, intraoperativen Test des Implantats und einer Überprüfung des Hörnervs wird das Innenohr abgedichtet, die Wunde vernäht.

Implantation_CI-ImplantatErgebnis. „Vier Tage nach dem Eingriff konnte ich nach Hause“, erzählt die junge Frau, die inzwischen als Architektin arbeitet. „Vier Wochen später kehrte ich in die Klinik zur Erstanpassung bei Herrn Dr. Stefan Gräbel zurück. Anfangs wurden Probetöne abgespielt. Anschließend jede einzelne Elektrode des Implantats eingestellt. Zunächst klang alles sehr metallisch. Als ob ein Radio unter Wasser spielen würde. Doch mit jeder Anpassung und dank des täglichen Trainings mit Hörbüchern wurde der Klang innerhalb von sechs Monaten deutlich besser.“

Anpassung_Implantat4Dämpfung. Was für Monika allerdings fast noch wichtiger ist: Nahezu bei Aktivierung des Implantats wird auch der Tinnitus leiser. „Ich war überrascht, wie gut ich plötzlich mit links hören konnte. Und wie sauber meine Geige dank des Verschwindens des kleinen Manns im Ohr wieder klang. Das Implantat hat mir die Freude an der Musik zurück gegeben!“

Expertin_ProfHeidiOlze3Fünf Fragen an Professorin Heidi Olze, Direktorin der HNO-Klinik der Berliner Universtitätsklinik Charité, Campus Virchow Klinikum

 Wieso ist gutes Hören eigentlich so wichtig? Unsere Ohren übernehmen vermutlich eine viel größere Aufgabe, als allein Informationen aufzunehmen. Neueste Untersuchungen bestätigen erstaunlich klar das alte Sprichwort: Wer nichts sieht, ist getrennt von den Dingen. Wer nichts hört, von den Menschen. Gutes Hören sorgt für eine gewisse soziale Einbettung. Schlechtes Hören ist verbunden mit psychischen Belastungen wie Stress, Ängstlichkeit, Depressionen. Inzwischen gibt es sogar Studien, die nachweisen, dass Menschen, die schlecht hören, ein höheres Risiko haben, im Alter an Demenz zu erkranken.

Implantat_ModellWas führt dazu, dass wir schlecht hören? Die häufigste Ursache für Taubheit ist der Untergang von Sinneszellen im Innenohr: Die so genannten Haarzellen wandeln die Schallwellen in der Schnecke – lat. Cochlea – in elektrische Nervenreize um, die von dort an das Gehirn geschickt werden. Durch eine unfallbedingte Schädigung des Innenohrs, Lärm, Durchblutungsstörungen oder genetische Ursachen können diese Haarzellen komplett ihre Funktion verlieren. Hier kann seit Mitte der 1980er-Jahre das Cochleaimplantat gut helfen.

Wie funktioniert das Implantat? Das künstliche Innenohr besteht aus zwei Komponenten: Dem so genannten Sprachprozessor, der außerhalb des Körpers Geräusche aufzeichnet und in digitale Impulse umsetzt und dem Impulswandler, der unter der Haut hinter der Ohrmuschel eingepflanzt wird. An dieser Stelle werden die „Außensignale“ von der Sendespule durch die Haut empfangen, umgewandelt und über feine Drähte bis an die Elektroden weitergeleitet, die im Innenohr liegen.

Patientin_CochleaImplantat5Warum funktioniert solche Technik im Körper? Das Geniale ist, dass in der so genannten Hörschnecke auch beim gesunden Menschen die mechanischen Schallwellen in elektrische Reize umgewandelt und über den Hörnerv ans Gehirn weitergeleitet werden. Der elektrische Impuls des Cochleaimplantats entspricht diesem Bauplan. Die Menschen können nach gewissem Training wieder hören.

Wer übernimmt die Kosten für eine Implantation? Für eine Implantation übernehmen in der Regel bei entsprechender medizinischer Indikationsstellung sowohl die gesetzlichen als auch die privaten Krankenkassen die Kosten. Für eine Versorgung der zweiten Seite muss evtl. ein entsprechender Antrag gemäß Behindertenausgleichsgesetz gestellt werden.

Hoergeraeteakustiker_Hoertest8Hintergrund Tinnitus

Volksleiden Ohrgeräusche. Es brummt, klingelt oder piept. Meist nur auf einem Ohr, manchmal auch auf beiden. Vier von zehn Bundesbürgern erkranken im Laufe ihres Lebens an akutem Tinnitus. Rund drei Millionen leiden chronisch an den lästigen Ohrgeräuschen – so die Schätzung von Experten.

Wie es tatsächlich zu den lästigen Geräuschen kommt, unter denen vom Musikgenie Ludwig van Beethoven bis zu Frauke Ludowig von RTL litten, ist nicht endgültig geklärt. Neben Lärm und akutem Hörsturz ist schlechtes Hören ein wichtiger Auslöser.

Ohrsinneszellen2Einerseits vermutetet man, dass die Hörzellen selbst anfangen verrückt zu spielen und Signale ans Gehirn senden, obwohl sie gar nichts empfangen. Andererseits geht man davon aus, dass auch das Gehirn selbst anfängt, sich aus Langeweile Geräusche „vorzustellen“.

Während die Hopi-Indianer in Amerika sich jedesmal freuen, wenn es bei ihnen piept, weil ihrem Glauben nach die Götter mit ihnen sprechen, löst das nervige Geräusch in unserer Gesellschaft häufig eine tragische Kettenreaktion aus. Da der kleine Mann im Ohr nervt, lenkt man noch mehr Konzentration auf das Geräusch. Die Filter im Gehirn, die normalerweise unwichtige Hintergrundgeräusche unterdrücken, werden gedämpft, das Geräusch insofern noch lauter. Ein Teufelskreis.

Ein wichtiges Mittel gegen Tinnitus ist die Verbesserung des Hörens. Entweder durch ein Hörgerät. Oder, wenn das nicht mehr ausreicht, jetzt auch durch ein Cochleaimplantat.

Modell_SchneckeWunderwerk Cochlea

Das sprichwörtliche Gras können wir zwar nicht wachsen hören – dennoch ist das Innenohr (auch Cochlea genannt) unsere sensibelste Antenne zur Außenwelt. Stimmen, Geräusche, Musik – alle akustischen Reize werden in der Hörschnecke in elektrische Impulse umgewandelt, die anschließend vom Gehirn „interpretiert“ werden.

Dabei ist das Ohr unser empfindlichstes, genauestes und auch leistungsfähigstes Sinnesorgan. Gekrönt wird das Ganze mit einer absolut genialen 3D-Hörfunktion, die uns leider oft erst bewusst wird, wenn wir auf sie verzichten müssen. De facto nimmt das Gehirn alles über 10 Mikrosekunden Delay (Laufzeitunterschied zwischen dem rechten und dem linken Ohr) als Versatz wahr und errechnet daraus eine dreidimensionale Hörwelt. Im Dschungel der Großstadt können wir dadurch sehr genau hören, ob sich ein Auto von uns weg bewegt oder auf uns zu kommt

Expertin_ProfHeidiOlzeKontakt: Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinik, Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Professorin Heidi Olze, Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin, Tel.: 030/450555072, Internet: https://hno.charite.de/

Weitere Informationen CI: MED-EL Elektromedizinische Geräte Deutschland GmbH, Moosstraße 7, 82319 Starnberg, gebührenfreie Hotline: 0800 0077030, Internet: www.medel.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

About André Berger

Geboren in Hamburg. 1986-1990 freier Reporter. 1991 Redakteur Heinrich Bauer Verlag. Seit 1992 freier Medizinreporter Meine Arzt- & Patienten-Reportagen (Text & Fotos) erscheinen regelmäßig in den großen, wöchentlichen Publikums- und Frauenzeitschriften des Burda-Verlags, der Funke-Gruppe und des Bauer Verlages