Seitdem ich stereo höre, hat mein ganzes Leben einen neuen Rhythmus

Nichts. Lena Süß ist schwerhörig – so wie rund sieben Millionen Menschen hierzulande. Und zunächst meint sie an dem achten März 2022, dass sich daran auch nichts geändert hat. Sechs Wochen hat die 26jährige Dresdnerin auf die Aktivierung des Implantats in ihrem Kopf hin gefiebert. Und nun hört sie keinen Unterschied. Trotz der Mühe, die sich der Audiologe bei der zweistündigen Anpassung der „Vibrant Soundbridge“ gegeben hat.

Magie. „Erst als ich das Gebäude verließ, kam dieser magische Moment. Als ob ein dünner, weißer Vorhang aufweht und eine neue Welt in frischen, kräftigen Farben zum Vorschein kommt – nur, dass es nicht ums Sehen, sondern ums Hören geht. Urplötzlich stand ich mitten auf einer dreidimensionalen Klangbühne voll kristallklarer Geräusche. Direkt hinter mir: ein Radfahrer, der klingelte, damit ich ihm Platz mache. Von rechts ein herannahendes Auto. Und links vor mir die hellen Stimmen von zwei Frauen, die sich über ihren nächsten Urlaub unterhielten. Ich verstand Wort für Wort – und schämte mich fast für die mangelnde Diskretion meiner Ohren. Was für ein unvergesslicher Moment nach einem furchtbar anstrengenden Leben voll ungeordneter, einseitiger, sich überlappender Klanginformationen.“

Wucherung. Vom zweiten Lebensjahr an litt die gebürtige Regensburgerin wiederkehrend unter Mittelohrentzündungen. „Trotz Antibiotika und der Entfernung der Mandeln bekamen diverse Hals-, Nasen-, Ohrenärzte die Beschwerden nicht in den Griff. Das Hören wurde immer schlechter. Mit fünf Jahren stellten die Ärzte fest, dass sich bei mir aus dem Entzündungsgewebe im Mittelohr ein Cholesteatom entwickelt hatte. Damals wurde ich das erste Mal wegen der entzündlichen Wucherung operiert.“

Rückfall. Die Entfernung des Gewebes – historisch auch „Perlgeschwulst“ genannt – ist ein zweischneidiges Schwert. Entfernen die Ärzte zu viel, leidet das Gehör. Entfernen sie zu wenig, fangen die verbliebenen Zellen an, wieder zu wuchern. Wegen eines solchen Rückfalls muss Lena mit sieben erneut operiert werden. Und hört anschließend noch schlechter. „Mein Hörgerät wurde zum Stigma. Wegen des ständigen Nachfragens wurde ich in der Schule gemobbt. Dabei war ich eh schon leise. Nun verstummte ich fast komplett!“

Krach. Die Lehrer machen allerdings für die schlechten schulischen Leistungen nicht die Hörminderung, sondern eine Lernbehinderung verantwortlich – und empfehlen das Mädchen letztlich an die Hauptschule weiter. „Dort wurde es für mich noch schwerer. Weder Mitschüler, noch Lehrer wollten oder konnten nachvollziehen, wie anstrengend und ermüdend ein Klassenraum voller Lärm für mich war. In der achten Klasse weigerte ich mich schließlich, weiter auf die Regel-Schule zu gehen, erzwang mit 14 meine Aufnahme auf eine Schule für Hörgeschädigte.“

Richtig. Erst hier wird deutlich, welche einschneidende Behinderung der einseitige Ausfall des Gehörsinns darstellen kann. Aus der Schulversagerin Lena wird Lena, die Klassenbeste. „Dank meines fotografischen Gedächtnisses fiel mir Lernen eigentlich ganz leicht. Schwer war für mich bis dato nur nachzuvollziehen, was der Lehrer von mir wollte und das richtig wiederzugeben. In dem Störschall-geschützten Raum konnte ich endlich zeigen, was in mir steckt.“

Grenzen. Für ein Happyend ist es allerdings zu früh: Mit 16 kehrt die entzündliche Wucherung zurück. Wieder muss operiert werden. Diesmal entfernt der Spezialist in Augsburg Teile der Gehörknöchelchenkette, legt eine so genannte Radikalhöhle an. Dadurch ist selbst das stärkste Hörgerät kaum noch in der Lage, das Wortverständnis sinnvoll zu verbessern. Aufgrund der anatomischen Veränderung können die relativ kleinen Geräte nicht genügend Schalldruck aufbauen.

Nervig. „Ich versuchte mich zu arrangieren. Las von den Lippen meines Gegenübers ab. Über Jahre hinweg zermürbte mich jedoch die Schwerhörigkeit. Lena Süß orientiert sich um, zieht Mitte 2020 nach Dresden, um in der Altenpflege neu anzufangen. „Vor dem Neustart fing mein Ohr jedoch wieder Beschwerden zu machen. Mit heftigen Schmerzen wandte ich mich an die Hals-, Nasen-, Ohrenklinik der Universität Dresden. Dort der bittere Befund: Das Cholesteatom war zum vierten Mal zurückgekehrt. Diesmal mussten sogar Titanplatten zum Schutz des Gehirns eingebracht werden.“

Horror. Der Eingriff glückt, doch Glücksgefühle kehren nicht zurück. „Das anhaltend schlechte Hören, die Konzentrationsstörungen, die Angst vor dem nächsten Rückfall, die menschliche Isolation – 2021 war ein einziger Horror. Und ich hatte keine Vorstellung mehr, wie es weiter gehen sollte. Mit letzter Kraft schleppte ich mich nach dem Jahreswechsel 2022 in die Uniklinik, schüttete dort mein Herz aus.“

Lokalisierung. Zu Lenas Überraschung haben die Dresdner Ärzte schnell eine Idee und schlagen ihr die Implantation der neuen „Vibrant Soundbridge“ vor. „Im Gegensatz zum bekannten Cochlea-Implantat (CI), das wir bei schwerer Innenohrschwerhörigkeit einsetzen, wenn die Sinneszellen im Innenohr defekt sind, kommt die Soundbridge zum Einsatz, wenn das Problem – wie bei Ihnen – eher im Mittelohr lokalisiert ist“, erklärt Professor Thomas Zahnert (58). 

Mechanik. Das Besondere des neuen Geräts, es verstärkt nicht einfach den Schall (wie ein Hörgerät) und erzeugt auch keine elektrischen Signale wie das CI. Die Soundbridge wandelt Schall in mechanische Bewegung um. Dieser Prozess – den normalerweise beim Menschen das Trommelfell übernimmt, wenn Geräusche auf die dünne Membran treffen – erfolgt bei der Soundbridge durch Direktkontakt mit den Gehörknöchelchen.  Von dort erfolgt die Signalverarbeitung normal übers Innenohr. Das vermeidet Verzerrungen, der Klang wird natürlicher und besser. 

Vorgeschmack. Lena Süß willigt noch am selben Tag ein. Einen Test mit einem externen Knochenleitungshörgerät eröffnet ihr einen ersten Vorgeschmack auf die Wirkung des neuen Implantats. „Es war überwältigend. Ich hatte das Gefühl, dass ein ganz neues Areal im Kopf angesprochen wird. Die OP wurde für den 25. Januar festgelegt. Tags zuvor kam ich in die Aufnahme. Nach einem Vorgespräch am nächsten Morgen mit dem Anästhesisten konnte es losgehen. Eineinhalb Stunden später wachte ich aus der Vollnarkose auf – ohne Schmerzen. Nur das Ohr war bandagiert. Und hören konnte ich natürlich auch noch nicht. Zwei Tage später durfte ich nach Hause“.

Belohnung. Die nächsten Wochen bis zur Aktivierung verlangen Lena einiges an Geduld ab. Doch seit dem achten März steht für die 26jährige fest, dass sich jede Mühe gleich hundertfach gelohnt hat. „Ich bin ein anderer Mensch geworden. Seit August arbeite ich bei einem ambulanten Pflegedienst – und es macht mir riesige Freude, selber mal anderen Menschen helfen zu können“, strahlt sie. „Darüber hinaus: Statt mich nach der Arbeit zurückzuziehen, um mich vom Hörstress zu erholen, weiß ich im Moment nicht, was ich zuerst machen soll: ins Fitnessstudio gehen, oder durch die Umgebung spazieren? Auf dem Crosstrainer steppen oder mit dem E-Roller durch Dresden cruisen. 

Handling. Den Audioprozessor, dessen Farbe sie passend zu ihrem langen Haar ausgesucht hat, aktiviert Lena gleich nach dem Aufstehen. Die Batterien wechselt sie je nach Hörsituation alle fünf bis sieben Tage. Nur wenn sie zu Bett oder in die Dusche geht, legt sie ihn ab. Das Implantat braucht keine eigene Stromversorgung, wird vom Audioprozessor mit Energie versorgt. 

Bilanz. „Anfangs musste ich mich an die vielen Eindrücke und Geräusche im Stereosound gewöhnen“, ist Lenas Erfahrung. „Inzwischen ist es ein unbeschreiblich tolles Gefühl, wieder richtig hören zu können. Ich bin selbstbewusster geworfen, hole vieles nach, was in meinem Mono-Leben nicht ging. Mein Alltag hat dank Stereo einen ganz neuen Rhythmus. Und ich bin überzeugt, dass da noch einiges kommen wird.“

Vier Fragen an Professor Dr. Thomas Zahnert (58), Direktor der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde des Universitätsklinikums Dresden

Wie unterscheidet sich die Soundbridge von einem normalen Hörgerät? Das neue, implantierbare Hörgerät macht Geräusche nicht einfach lauter, sondern wandelt Schallwellen in mechanische Bewegung um. Durch Umgehung des Trommelfells und über den Direktkontakt zu den Gehörknöchelchen werden Verzerrungen vermieden. Der Klang ist natürlicher und besser. Zudem funktioniert dies auch, wenn Teile der Gehörknöchelchen durch vorausgegangene Entzündungen nicht mehr schwingen oder fehlen. Wir nutzen zur Ankopplung oft den Steigbügel oder das Eingangstor zum Innenohr – die Rundfenstermembran. 

Gibt es weitere Vorteile? Da der Gehörgang durch das Gerät nicht verschlossen wird, gibt es keine Entzündungen im Gehörgang mehr. Das System funktioniert auch beim Sport. Zudem ist es komplett reversibel. Es werden keine Strukturen im Ohr zerstört. Ist die Soundbridge nicht in Betrieb, hören die Patienten wie vorher.

Welche Patienten kommen für das neue Implantat in Frage? Die Soundbridge eröffnet neue Wege des Hörens für Menschen, bei denen ein normales Hörgerät aus medizinischen Gründen nicht eingesetzt werden kann oder zu keiner Verbesserung des Hörvermögens beiträgt. Dies ist häufig der Fall bei einem bleibenden Hörverlust nach Mittelohr-Operationen oder wenn Hörgeräte aufgrund dauerhafter oder wiederkehrender Entzündungen des Gehörgangs nicht getragen werden können. Die SOUNDBRIDGE kann sowohl bei leichter bis hochgradiger Innenohr-Schwerhörigkeit, als auch bei Schallleitungs– oder kombiniertem Hörverlust angewendet werden.

Was kostet der Eingriff? Kann eine Hörminderung mit herkömmlichen Hörgeräten nicht ausgeglichen werden, ist die Implantation einer Vibrant Soundbridge eine Leistung der Krankenkasse. Im Einzelfall ist eine Rücksprache nötig.

Kasten Vibrant Soundbridge

Das Soundbridge-System besteht aus zwei großen Teilen: dem Implantat unter der Haut und dem äußeren, magnetisch befestigten SAMBA 2 Audioprozessor. Zuerst wird Schall vom Mikrofon des Audioprozessors aufgenommen. und in elektrische Signale umgewandelt, die dann ans Implantat gesendet werden.

Das Implantat entschlüsselt die Signale, leitet sie an den „Floating Mass Transducer“ (kurz FMT) im Mittelohr weiter. Der FMT, Herzstück der Soundbridge, wird durch elektrische Impulse zum Schwingen gebracht. Per Titanclip wird der FMT mit einem der drei zwischen drei und neun Millimeter winzigen Gehörknöchelchen verbunden und setzt so Hammer, Amboss oder Steigbügel in Bewegung. Dank des Direktantriebs arbeitet die Soundbrigde im breiten Frequenzbereich von bis zu 8000 Hertz.

Wunderwerk Gehör

Unser Gehörsinn ist eine hochspezialisierte Antenne zur Außenwelt. Stimmen, Geräusche, Musik – alle akustischen Reize werden in der Hörschnecke in elektrische Impulse umgewandelt, die anschließend vom Gehirn „interpretiert“ werden.

Dabei ist das Ohr unser sensibelstes, genauestes und auch leistungsfähigstes Sinnesorgan. So überspannt es ein Frequenzband des wahrnehmbaren Schalls von 20 bis 20.000 Hertz.

Auch bei der „Tastempfindlichkeit“ liegt das Ohr uneinholbar vorn. Vergleicht man den hörbaren Schalldruck von 0 bis 140 Dezibel mit der maximalen Belastbarkeit einer Waage, so müsste deren Messbereich von einem Milligramm bis 1.000 Tonnen reichen.

Gekrönt wird das Ganze mit einer extrem präzisen dreidimensionalen Hörfunktion, die uns leider oft erst bewusst wird, wenn wir auf sie verzichten müssen. De Facto nimmt das Hörzentrum im Gehirn alles über 10 Millisekunden Delay (Laufzeitunterschied zwischen dem rechten und dem linken Ohr) als Versatz wahr und errechnet daraus eine dreidimensionale Hörwelt. Im Dschungel der Großstadt können wir deshalb nicht bloß hören, ob ein Auto auf uns zu kommt oder sich von uns wegbewegt, sondern auch ob es dabei schnell oder langsam unterwegs ist.

­­­­Hintergrund „Schwerhörigkeit“

Fast 20 Millionen Deutsche haben eine Hörminderung. Lärm bedroht dabei am stärksten den empfindlichen Hörsinn. Gefahrenquellen sind Straßenverkehr oder Baustellen, Konzerte und Musicplayer; aber auch unauffällige Dauerlärmquellen wie Haushaltsgeräte, Rasenmäher oder Computer. Am Ende zählt nicht bloß das Stärke des Lärm-Gifts, sondern auch seine Einwirkzeit: Hörzellen verkraften 40 Stunden lang Lautstärken bis zu 85 Dezibel, doch schon bei 100 db reicht eine Stunde, um sie zu zerstören. 

Gönnen Sie den Ohren angemessene Ruhepausen, wenn‘s besonders laut war. Schalten Sie störende Hintergrundgeräusche ab und vermeiden Sie laute Knallgeräusche. Leider nehmen viele Menschen Hörschäden hin, ohne aktiv zu werden. Oft dauert es zehn Jahre oder länger, bis ein Hörgeschädigter den Experten aufsucht. Das Problem: Wer schlecht hört, dreht die Lautstärke hoch und schädigt das Ohr noch mehr. Lassen Sie Ihr Gehör regelmäßig alle zwei Jahre vom Fachmann kontrollieren, dann entgehen Sie diesem Teufelskreis.

Schnelltest: Wie gut hören Sie?

1. Fällt es Ihnen schwer, jemanden zu verstehen, der Sie von hinten oder von der Seite anspricht oder Sie in der Gaststätte sind mit Umgebungslärm? 

2. Beschweren sich andere Menschen bereits darüber, dass Sie Ihr Radio oder Ihren Fernseher zu laut stellen? 

3. Ist es Ihnen schon passiert, dass Sie ein herannahendes Auto erst im letzten Moment gehört haben? 

4. Haben Sie das Gefühl, dass die meisten Menschen immer undeutlicher sprechen? 

5. Überhören Sie gelegentlich den Wecker oder das Telefonläuten? 

6. Sie haben Schwierigkeiten fremde Menschen am Telefon zu verstehen?

Auswertung:

Leider kann schon bei einer positiven Antwort Ihr Hörvermögen vermindert sein. Es wäre gut, wenn Sie einen professionellen Hörtest beim Hörakustiker oder Hals-Nasen-Ohrenarzt machen würden, um die Situation realistisch einschätzen zu lassen.

Klinik-Kontakt: Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-und Ohrenheilkunde, Fetscherstraße 74, 01307 Dresden, Sekretariat Prof. Zahnert: 0351/458-4420, Internet: www.uniklinikum-dresden.de

Therapie und Klinik-Info: MED-EL Deutschland GmbH, Moosstraße 7, 82319 Starnberg, Tel. 08151/770330, Internet: www.medel.de

Initiative gegen Hörverlust, Internet: www.endlich-wieder-hoeren.org

Hinweis: Bei der vorgestellten Patienten-Reportage handelt es sich um einen Einzelfall. Der Erfahrungsbericht erhebt nicht Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Therapieergebnisse sind generell individuell. Bitte beachten Sie, dass meine Artikel in keinem Fall eine Beratung durch den Arzt oder Apotheker ersetzen. Dieser Blog dient der medizinjournalistischen Information.

© medizin-reporter.blog/André Berger

One thought on “Seitdem ich stereo höre, hat mein ganzes Leben einen neuen Rhythmus

  1. Gute Informationen. Bei mir steht evtl. eine solche OP an. Schade nur – das wird in diesem Bericht nicht erwähnt – ist die SB nicht gut bei höheren Tönen geeignet, da sie, technisch bedingt, bei höheren Tönen nicht mehr überträgt. Flüstern im Film, immer wenns spannend wird… hört man dann weiterhin nicht. So die Info aus der HNO Freiburg

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About André Berger

Geboren in Hamburg. 1986-1990 freier Reporter. 1991 Redakteur Heinrich Bauer Verlag. Seit 1992 freier Medizinreporter Meine Arzt- & Patienten-Reportagen (Text & Fotos) erscheinen regelmäßig in den großen, wöchentlichen Publikums- und Frauenzeitschriften des Burda-Verlags, der Funke-Gruppe und des Bauer Verlages