Tapfer. „Du musst kämpfen. Immer. Wenn Du nicht kämpfst, hast Du schon verloren“, Kadriye Erol (Name geändert) stolpert beim Sprechen sprichwörtlich über den spitzen Stein – so, wie man das macht, wenn man in Reinbek bei Hamburg geboren und hier in Glinde aufgewachsen ist.
Glück. Die heute 41jährige hat eigentlich Krankenschwester gelernt. Doch schon seit vielen Jahren arbeitet die Tochter türkischstämmiger Gastarbeiter als Servicekraft in einem bekannten Hamburger Steakhouse. Es macht ihr besondere Freude, anderen Menschen ein, zwei schöne Stunden zu bereiten.
Respekt. „Mein Arzt wundert sich seit längerem, dass ich immer noch berufstätig bin“, fährt sie fort. „Andere an meiner Stelle hätten lange die Rente beantragt. Doch das will ich nicht. So lange es geht, will ich mein eigenes Geld verdienen. Ich will niemandem auf der Tasche liegen – selbst wenn ich aufgrund meiner Krankheit das Recht dazu hätte.“
Atemlos. Dass Kadriye so normal wie möglich ihr Leben lebt, liegt vielleicht daran, dass die Frau und Mutter ein Leben ohne Atemnot, bleiernde Müdigkeit und schneller Erschöpfung nicht kennt. Bei der U3-Kontrolluntersuchung beim Kinderarzt war ihre Haut auffallend blass; sie war kurzatmig; ihr kleines Herz schlug viel zu schnell.
Gen-Defekt. Nach der Blutuntersuchung war bald klar: Kadriye leidet an einer seltenen Blutkrankheit, die ursprünglich im Mittelmeerraum beheimatet ist: Beta-Thalassämie major. „Sowohl Mutter, als auch Vater haben mir – ohne es zu wissen – ein defektes Gen vererbt. Die Folge: es werden zu wenig intakte rote Blutkörperchen gebildet. Aufgrund des Mangels an Sauerstoffträgern wurden meine Organe nur unzureichend mit Energie versorgt. Ich entwickelte deshalb die dramatischen Symptome einer schweren Anämie.“
Selten. Weltweit gesehen ist die Mittelmeer-Blutarmut (Thalass = Meer; -ämie = Blutmangel) eine der häufigsten Erbkrankheiten. Laut Weltgesundheitsorganisation werden 300000 Kinder jährlich damit geboren. In Deutschland hingegen war die Beta-Thalassämie bis in die 1960er Jahre eine Rarität.
Lebenslang. Erst seit Anwerben der Gastarbeiter in Spanien, Italien, Griechenland und der Türkei tritt sie auch hierzulande zunehmend auf: Schätzungen zufolge gibt es etwa 500 Bundesbürger mit der schweren „major“- Form, 160000 mit der milderen „minor“-Form. Wichtigste Behandlungsmöglichkeit sind Bluttransfusionen – und zwar lebenslang.
Geduld. „Tatsächlich ist eine Transfusion meine erste, eigene Erinnerung an die Krankheit“, berichtet Kadriye. „Damit ich mir damals die noch starre Hohlnadel nicht bei einer falschen Bewegung in den Arm stieß, war mein Arm an eine Gips-Schiene fixiert. Acht bis zehn Stunden musste ich alle vier bis sechs Wochen daliegen und abwarten, bis auch der letzte Tropfen des Erythrozyten-Konzentrats quälend langsam in die Armbeuge getropft war.“
Komplikation. Nicht genug; So wie alle Patienten, die regelmäßig auf Transfusionen angewiesen sind (neben der Thalassämie sind das vor allem Patienten mit Blutbildungsstörungen bei den Myelodysplastischen Syndromen, der Myelofibrose und aplastischen Syndromen) drohte Kadriye eine so genannte Eisenüberladung. Der Grund ist, dass der Körper keinen eigenen Ausscheidungsmechanismus für das Eisen hat, das beim Abbau des Fremd-Hämoglobins frei wird.
Unterricht. „Da meine ältere Schwester ebenfalls unter der Thalassämie litt, kam eine Krankenschwester extra zu uns nach Hause, um uns Kindern zu zeigen, wie wir selbst das Eisen aus dem Körper ziehen können: wir lernten, uns selbst ein eisenbindendes Medikament unter die Haut zu spritzen“, so Kadriye.
Horror. Jeden Abend mussten sich die Mädchen fortan an acht bis zehn Stellen pieksen. Die Beulen taten tagelang weh. „Ich weiß noch genau, dass meine Puppen und Teddies total zerstochen waren, weil ich das Spritzen mit ihnen nachgespielt habe. Manchmal wollte und konnte ich nicht mehr. Dann banden mich die Eltern fest, damit mich die Schwester pieksen konnte.“
Protest. Der Zusammenbruch kam aber erst Jahrzehnte später –nach der Geburt ihrer Tochter Lara 1999. „Eigentlich hatten wir nicht mehr damit gerechnet, dass ich schwanger werden könnten. Für uns war es ein Wunder, als sich unser Kind anmeldete. Tatsächlich ging es mir während der Schwangerschaft auch ziemlich gut – denn das Kind nimmt ja Eisen.“
Erschöpfung. Nach der Entbindung entzog sich die frisch gebackene Mutter allerdings komplett der medizinischen Versorgung. „Nach sechs Monaten begann ich wieder zu arbeiten. Dazu die neue Belastung mit dem Baby. Mir fehlte schlichtweg die Kraft, mich weiter zu stechen. Das Einzige, was ich mir regelmäßig abholte, waren die Blutkonserven.“
Prophezeiung. Die Konsequenz wurde ihr 2006 schwarz auf weiß präsentiert: Der Blutwert fürs Ferritin war bei 8800 angelangt. Dabei sind Werte ab 1000 Anlass für die so genannte Eisenchelat-Therapie. „Wenn wir jetzt nichts unternehmen, werden Sie mit größter Wahrscheinlichkeit, den 14ten Geburtstag ihrer Tochter nicht mehr erleben“, redete ihr der neue, behandelnde Arzt Dr. Andreas Mohr (66) ins Gewissen und verschrieb ihr das alte Medikament und eine Motorpumpe.
Fortschritt. „Drei Jahre quälte ich mich so mit den Injektionen herum, um die erhebliche Eisenüberladung zu reduzieren. Dann kam ein neues Medikament auf den Markt, das man bloss trinken musste. Es wurde jedesmal frisch mit Wasser angesetzt, sah aus wie Kreide. Alles besser als die Spritze.“
Tragisch. Wie lebensgefährlich die Krankheit wirklich sein kann und wie Recht ihr Arzt mit der Gardinenpredigt hatte, erlebt Kadriye Erol am dritten September 2011. An diesem Tag starb die ältere Schwester an einem Herzinfarkt – mutmaßlich aufgrund der gemeinsamen Grunderkrankung. „Neben dem unermesslichen Verlust rüttelte ihr Tod mich komplett auf, alles zu tun, um möglichst lang auch für meinen Mann und meine Tochter dazu sein“.
Verbesserung. Eine Erleichterung: Letztes Jahr kann Dr. Andreas Mohr seiner Patientin erneut gute Neuigkeiten zum Eisenabbau überbringen: Eine neue Filmtablette löst bei Kadriye das mühsame Herstellen der Trinklösung ab. „Fünf Stück – drei morgens und zwei abends – das ist alles. Wer meinen Weg nicht gegangen ist, kann sich nicht vorstellen, wie einfach das Leben dadurch geworden ist – wie traurig, dass das meine Schwester nicht mehr erleben kann. Aber ich kämpfe weiter – auch für sie.“
Sechs Fragen an den Blutexperten Dr. Andrea Mohr (66), Onkologie Lerchenfeld, Hamburg
Warum sind regelmäßige Bluttransfusionen eine Gefahr für die Gesundheit? Patienten, die regelmäßig auf Bluttransfusionen angewiesen sind – z.B. bei Myelodysplastischen Syndromen (MDS), bei Myelofibrose (PMF), Aplasie oder Thalassämie – haben ein erhöhtes Risiko, eine Eisenüberladung zu entwickeln. Bereits nach etwa 20 Gaben von Erythrozytenkonzentraten kommt es dazu, dass die freie Eisenkonzentration im Blut ansteigt. Der Körper kann das Eisen nicht aktiv ausscheiden, das beim Abbau des Fremdblutes frei wird (pro 400 ml 0,2 Gramm).
Aber ist Eisen nicht generell gut für den Körper? Leider nicht bei der Eisenüberladung. Die Folgen aufgrund der Anreicherung von Eisen in Organen und Gewebe können Schäden an Herz, Leber, hormonausschüttenden Organen oder im Gehirn hervorrufen – wie bei jeder anderen Schwermetall-Vergiftung. Bei Patienten mit MDS kann die Eisenüberladung sogar die Entstehung einer Akute Myeloische Leukämie (AML) begünstigen und die Lebenserwartung erheblich einschränken.
Wie bekommen Sie das Eisen aus dem Körper wieder heraus? Wir müssen hierbei die primäre und die sekundäre Eisenüberladung getrennt betrachten. Bei einer primären Eisenüberladung aufgrund einer familiär verebten Eisenspeicherkrankheit (Hereditäre Hämochromatose) ist die Blutneubildung im Knochenmark nicht eingeschränkt, so dass Aderlässe (anfangs alle zwei bis drei Wochen, später ca. alle 3-4 Monate zur Erhaltung) bis heute die beste Therapie darstellen. Das verbietet sich selbstverständlich bei einer sekundären Eisenüberladung aufgrund von Polytransfusion. Hier kommen so genannte Eisen-Chelatoren zum Einsatz.
Wie funktioniert die Chelat-Therapie? In den 40er Jahren des 20sten Jahrhunderts entdeckte man erste Substanzen, die im Körper Schwermetalle binden und die Ausscheidung der Giftstoffe fördern können. Früher wurde die Medikamente unter die Haut gespritzt. Inzwischen gibt es Tabletten, die das gebundene Eisen über den Darm (oder die Nieren) ausscheiden.
Wie diagnostizieren Sie eine Eisenüberladung? Erhöhte Ferritinwerte im Blutbild weisen auf uns als erstes auf eine Eisenüberladung hin. Diese spiegeln aber nicht unbeding das Ausmaß der Organeinsenüberladung wider. Um darüber Auskunft zu bekommen, gibt es bildgebende Verfahren – heute meist mittels Magnetresonanz Tomografie (MRT).
Kann ich mir über eisenarme Ernährung selber helfen? Leider kaum. Die Ernährung spielt bei der Eisenüberladung nur eine untergeordnete Rolle, da die Aufnahme vor allem über die Blutkonserven erfolgt. Wer will, kann den Genuss von rotem Fleisch, Blut- und Leberwurst reduzieren. Die Zufuhr von hochwertigem Eiweiß (Fleisch, Fisch, Milchprodukte) sind aber so wichtig, dass Sie darauf nicht grundsätzlich verzichten sollten – im Zweifel sollten Sie unbedingt den Arzt befragen. Da Vitamin C durch Ansäuerung des Speisebreis die Eisenresorption steigern kann, rate ich von einer höherdosierten Vitamin C-Aufnahme über Nahrungsergänzungsmittel ab. Ansonsten empfehle ich eine ausgewogenen Ernährung mit hellem Fleisch, Milchprodukten und der breiten Vielfalt an Obst und Gemüse.
Hintergrund Thalassämie
Laut WHO (World Health Organization) werden jedes Jahr mehr als 300.000 Babys mit so genannten Hämoglobinopathien wie der Thalassämie geboren. Ohne Behandlung führt die Erkrankung häufig schon in früher Jugend zum Tod. Nach wie vor ist die klinische medizinische Versorgung der Betroffenen in vielen Ländern völlig unzureichend.
In Deutschland ist Thalassämie eine eher unbekannte Krankheit, da sie vor allem hauptsächlich im Mittelmeerraum – vor allem in Regionen mit traditionellem Malaria-Risiko – vorkommt. Menschen mit Thalassämie haben bei Malaria einen gewissen Überlebensvorteil.
Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Thalassämie: die β- und die α-Thalassämie, wobei die α-Thalassämie sehr selten vorkommt. Die β-Thalassämie wird in minor und major unterschieden.
Vor allem bei der Thalassämie major sind regelmäßige Bluttransfusionen notwendig. Dadurch können bereits im ersten Lebensjahr Beschwerden wie Blutarmut, Gelbsucht, Atemnot, Vergrößerung der Leber und Milz entstehen. Außerdem bleiben betroffene Kinder meist in der körperlichen Entwicklung zurück.
Durch die notwendigen Bluttransfusionen steigt langfristig der Eisenspiegel im Körper. Das überschüssige Eisen lagert sich in lebenswichtigen Organen ab schädigt diese massiv. Oftmals kommt es zu Herz-Kreislauf-Komplikationen, die zum Tod führen können.
Expertenkontakt: Dr. Andreas Mohr, Onkologie Lerchenfeld, Lerchenfeld 14, 22081 Hamburg, www.onkologie-lerchenfeld.de, Tel. 040/227180-0
Mehr Infos: Die Patientenbroschüren „Leben mit Transfusionen“ und „Thalassämie“ finden Sie in sechs Sprachen unter http://www.leben-mit-transfusionen.de