Tatendrang. Auf den Sommer hat Annemarie Becker dieses Jahr lange warten müssen. Doch jetzt blühen die Sträucher und Büsche in allen Farben und Formen im Garten ihres rotgeklinkerten Reihenendhauses. Die 76jährige Rentnerin aus Krefeld kommt kaum hinterher, mit der Rosenschere dem bunten Treiben Einhalt zu gebieten. „Ich werde gebraucht“, freut sich die Ehefrau, dreifache Mutter und Oma einer fünfjährigen Enkelin. „Das hält fit!“
Programm. Neben der Gartenarbeit ist Annemarie Becker fast täglich im Ort mit dem neuen E-Bike unterwegs, geht ein Mal pro Woche zur Gymnastik, erkundet am Wochenende mit Ehemann Klaus gleichfalls per Velo die nähere Umgebung. „Vor drei Jahren wäre mir noch die Puste ausgegangen. Damals fühlte ich mich kaum leistungsfähig, war kurzatmig, hatte gar Wasser in der Lunge – mein Herz wollte nicht mehr!“
Volkskrankheit. „Vorhofflimmern“ heißt die Krankheit medizinisch korrekt, an der Annemarie Becker und weitere, rund 1,8 Millionen Deutsche leiden. Die Herzrhythmusstörung liegt zunächst meist nicht dauerhaft vor, sondern tritt in Episoden mit zunehmender Häufigkeit auf, bis das Herz irgendwann permanent im falschen Rhythmus schlägt. Das erste Mal machte sich vor knapp 20 Jahren beim Langlauf in Österreich die Volkskrankheit bei der ehemaligen Medizinisch-technischen Assistentin mit wahnsinnigem Herzklopfen bemerkbar.
Erschöpfend. „Wir waren gerade in der Loipe, als mir das Herz bis zum Hals pochte. Der Puls stieg auf 140 bis 150 Schläge pro Minute. Ich konnte kaum durchatmen – an Sport war nicht zu denken. So nahm ich den Skibus heim, legte mich hin – und zum Glück beruhigte sich alles nach einer Stunde wieder.“
Befund. Fortan wurde das vorübergehende Rumpeln und Pumpeln in der Brust allerdings zur zunehmenden Belastung. Sogar nachts konnte es vorkommen, dass das Herzrasen Annemarie Becker aus dem Schlaf schreckte. Und obwohl Ehemann Klaus selbst Arzt ist, dauerte es Jahre bis sie das Glück hatte, dass im EKG eine entsprechende Episode aufgezeichnet werden konnte. Erst jetzt war das Vorhofflimmern korrekt diagnostiziert.
Verschlechterung. „2010 wurde aus unbekannter Ursache die Rhythmus-Störung zum Dauerzustand. Dreimal wurde ich im Helios Klinikum Krefeld per Katheter-Behandlung bzw. Kardioversion in den normalen Sinus-Rhythmus zurückgeholt – leider nicht stabil. Ende 2012 schlug mein Herz quasi wie es wollte.“
Risiko. Da die Vorhöfe des Herzen mit viel höherer Frequenz und unregelmäßig pumpten, als sie es normalerweise sollten, litt Annemarie Becker nicht nur unter mangelnder Leistungsfähigkeit. Durch den gestörten Bluttransport bestand die Gefahr, dass es zur Bildung von Gerinnseln im Herzen kommt. „Wenn die sich lösen und über den Aortenbogen Richtung Gehirn gepumpt werden, droht Ihnen ein Schlaganfall“, erklärte ihr Privatdozent Dr. Friedhelm Späh, leitender Oberarzt im Herzzentrum der Krefelder Klinik.
Hintergrund. „Bereits seit längerem haben wir bewährte Möglichkeiten, die Pulsrate medikamentös auf verträgliche 60 bis 70 Schläge pro Minute zu regulieren, wenn es uns nicht mehr gelingt, das Herz wieder in den gesunden Sinus-Rhythmus zurückzubringen. Gravierender ist das leider zu wenig bekannte, fünffach erhöhte Schlaganfall-Risiko bei Vorhofflimmern. Denn Schlaganfall gehört hierzulande zu den häufigsten Ursachen für Tod und bleibende Behinderungen,“ warnt Späh.
Lästig. Zur Vorbeugung bekam Annemarie Becker zunächst einen Vitamin-K-Antagonisten. Allerdings fiel ihr der Umgang mit dem viele Jahrzehnte alten Blutverdünner nicht leicht: „Alle drei Wochen musste ich zum Arzt, um meine Blutwerte kontrollieren zu lassen. Außerdem musste ich mit dem Essen ständig aufpassen: über 200 Lebensmittel und Medikamente können die Wirkung der Vitamin-K-Antagonisten beeinflussen.“
Kompliziert. Das Schlimmste allerdings war die Belastung, wenn sie mal zum Zahnarzt musste: „Dafür musste ich viele Tage vorher das Medikament absetzen und auf Heparin-Spritzen einmal täglich umsteigen – nicht nur solange, bis meine Gerinnungswerte eine Behandlung zuließen, sondern auch darüber hinaus, bis die Wirkung des Medikaments wieder einsetzte. Selbst für mich als gelernte medizin-technische Assistentin war diese Überbrückungstherapie super belastend – besonders als ich wegen einer Kniearthose ein neues Gelenk bekommen sollte!“
Innovation. Um so erleichterter war Annemarie Becker, als ihr im Januar 2013 Dr. Friedhelm Späh den Wechsel auf einen der neuen Gerinnungshemmer („Antikoagulanzien“) vorschlug. „Der Vorteil ist, dass die neuen Medikamente ganz gezielt nur an einem Schalter der Gerinnung andocken. Lässt man die nächste Tablette weg, ist nach einem Tag die Blutgerinnung normal und es kann operiert werden. Ist der Eingriff überstanden, ist mit der nächsten Einnahme auch der Schlaganfallschutz rasch wieder aufgebaut.“
Erfolg. So auch bei Annemarie Becker: „Dank der modernen Hemmung der Blutgerinnung war das Einsetzen der Knieprothese im linken Bein kein Problem. Wenige Tage nach dem Eingriff konnte ich beschwerdefrei nach Hause entlassen werden. Mit meinem neuen Gelenk stehe ich wieder fest mit beiden Beinen im Leben. Und dank des neuen Gerinnungshemmers bleibt es hoffentlich auch lange Zeit so – denn die belastende Sorge, dass mich sonst irgendwann der Schlag trifft, ist damit weniger geworden!“
Fragen an den Experten Privatdozent Dr. Friedhelm Späh (66), Leitender Oberarzt am Herzentrum des HELIOS Klinikums Krefeld, Chefarzt des HELIOS Prevention Centers
Wie viele Menschen sind in Deutschland von Vorhofflimmern betroffen?
Aktuellen Schätzungen zufolge sind rund 1,8 Millionen Menschen hierzulande von der häufigstigen Form der Herzrhythmus-Störung betroffen, mehrheitlich im höheren Lebensalter ab 65 Jahren. Besorgniserreigend ist dabei, dass viele Patienten nichts davon wissen. Das liegt daran, das Vorhofflimmern vielfach keine, bzw. nur leichte Symptome auslöst.
Bei welchen Beschwerden sollte ich zum Arzt?
Ein kurzzeitig erhöhter Herzschlag bei Belastung z.B. ist meist ganz normal. Doch wer bei sich grundlos einen Puls von über 100 Schlägen pro Minuten feststellt, sollte sein Herz ärztlich checken lassen – auch wenn der Puls wiederkehrend stolpert, ausbleibt oder unregelmäßig erscheint. Generell empfehlen wir auch unseren ärztlichen Kollegen bei allen Patienten ab 65 regelmäßig das Tasten des Pulses – entweder am Handgelenk oder am Hals.
Wie wird Vorhofflimmern behandelt?
Wenn der Patient unter einem unregelmäßigen Puls leidet, ist eines unser wichtigsten Ziele, das Herz wieder in den normalen Sinus-Rhythmus zu bringen. Dafür steht uns neben der Kardioversion seit wenigen Jahren die Möglichkeit der unblutigen Verödung der Fehlsteuerung des Herzschlags im „elektrophysiologischen“ Katheterlabor zur Verfügung (sog. Katheter-Ablation).
Und wenn das nicht funktioniert?
Dann kann mit Medikamenten wie Betablocker, Digitalis oder Kalziumkanalblocker der Herzschlag beruhigt werden. Außerdem ist es wichtig, das Schlaganfallrisiko zu kontrollieren. Dank der neuen, oralen Gerinnungshemmer ist das noch einfacher geworden. Würden alle Patienten frühzeitig diagnostiziert und behandelt, könnten hierzulande rund 9.400 Schlaganfälle pro Jahr vermieden werden!
StSelbsthilfe-Kasten
Verkalkung der Arterien, Bluthochdruck oder Diabetes können zum Hirn-GAU führen. Doch jeder kann etwas dafür tun, damit es nicht dazu kommt.
Lebensstil-Änderung: Falsche Ernährung, aber auch Rauchen, sowie Bewegungsmangel sind die Top-Feinde unseres Gehirns. Denn die Folgen sind Bluthochdruck, Diabetes und Übergewicht. Und das sind allesamt Faktoren, die das Risiko eines Schlaganfalls entscheidend erhöhen. Eine Studie hat nun gezeigt, dass allein Abnehmen ausreicht, um das Risiko für einen Schlaganfall zu senken.
Wachsam bleiben: Jeder dritte Schlaganfall kündigt sich Stunden, Tage oder auch Wochen vorher an. Bei plötzlichen Sehstörungen auf einem Auge, Sehen von Doppelbildern, einer vorübergehenden halbseitigen Muskelschwäche oder Gefühlsstörungen in Arm oder Beinen, kurzen Sprachstörungen, Drehschwindel oder Gangunsicherheit oder erstmalig und plötzlich auftretenden, rasenden Kopfschmerzen sollten Sie umgehend zum Arzt oder den Notarzt rufen.
Keine Zeit verlieren: Je schneller Sie in der Klinik sind, umso besser kann Ihnen geholfen werden. Am besten sind so genannte Stroke (=Schlaganfall) Units (=Abteilungen), die auf die sofortige Diagnose (per CT sowie Ultraschall) und auf die Behandlung eingerichtet sind. Zum Einsatz kommt dabei z.B. die Thrombolyse. Dazu wird ein Medikament in die Vene gespritzt, das das Gerinnsel auflösen soll.
Lassen Sie sich helfen: Wenn Sie unter Bewegungsmangel und Übergewicht leiden, sollten Sie beim Arzt zumindest die Risikofaktoren „Bluthochdruck“, „Puls“ und „Cholesterin“ regelmäßig kontrollieren lassen. Auch, wenn es in Ihrer Familie bereits Fälle von Schlaganfällen gab, sollten Sie zum Vorsorgecheck!
Hintergrund Schlaganfall
Nahezu 270.000 Bundesbürger erleiden pro Jahr die lebensgefährliche Krankheit, die nach Krebs- und Herzerkrankungen die dritthäufigste Todesursache hierzulande ist. Experten der Weltgesundheitsorganisation sprechen bereits von der kommenden „Epidemie des 21. Jahrhunderts“.
Der plötzliche Funktionsausfall wird durch Sauerstoffmangel im Gehirn ausgelöst – immerhin verbraucht der biologische Super-Computer etwa ein Fünftel des Biotreibstoffs. Ursache ist in vier von fünf Fällen das Verstopfen einer Ader durch ein Gerinnsel. Beim restlichen Fünftel ist eine Blutung durchs Zerreißen eines Gefäßes schuld.
FAST-Test: Den Schlaganfall richtig erkennen
- F wie Face (Gesicht): Bitten Sie die Person zu lächeln. Ist das Gesicht einseitig verzogen, deutet das auf eine Halbseitenlähmung hin.
- A wie Arms (Arme): Bitten Sie die Person, die Arme nach vorne zu strecken und dabei die Handflächen nach oben zu drehen. Bei einer Lähmung können nicht beide Arme gehoben werden, sinken oder drehen sich.
- S wie Speech (Sprache): Lassen Sie die Person einen einfachen Satz nachsprechen. Ist sie dazu nicht in der Lage oder klingt die Stimme verwaschen, liegt vermutlich eine Sprachstörung vor.
- T wie Time (Zeit): Bei einem Schlaganfall zählt jede Minute, um Leben zu retten oder bleibende Behinderungen zu vermeiden. Wählen Sie den Notruf 112 und schildern Sie die Symptome.
Fakten Vorhofflimmern
Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung hierzulande. Zwei von hundert aller unter 65jährigen leiden daran. Mit zunehmendem Alter nimmt die Häufigkeit zu.
Beschwerden: Typisch sind Frequenzen von über 100 Herzschläge pro Minute, ein unregelmäßiger, stolpernder Puls, Unruhe, Schlaflosigkeit; aber auch Luftnot und diffuse Herzschmerzen.
Verschlechterung: Vorhofflimmern kann plötzlich beginnen und genauso plötzlich stoppen. Es kann auch in lang anhaltender Form auftreten sowie dauerhaft sein.
Kontakt: HELIOS Klinikum Krefeld, HELIOS Prevention Center, Privatdozent Dr. Friedhelm Späh, Lutherplatz 40, 47805 Krefeld, Tel. 0215132-2702, Internet: www.helios-kliniken.de/krefeld
Hinweis: bei der vorgestellten Patienten-Reportage handelt es sich um einen Einzelfall. Der individuelle Behandlungsbericht erhebt nicht Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Bitte beachten Sie, dass meine Artikel in keinem Fall eine Beratung durch den Arzt oder Apotheker ersetzen. Dieser Blog dient allein der medizinjournalistischen Information.