Jetzt weiß ich, wie schön Wind und Wellen klingen

Brandung_OstseeEntspannt. Geoffrey Ball liebt das Wasser. Noch mehr das Meer. „Bereits als kleiner Junge wollte ich Rettungsschwimmer werden – wie David Hasselhof in der Fernsehserie ,Baywatch’“, erzählt der 52jährige Amerikaner mit österreichischem Pass. „Man kann Leben retten. Man kann die ganze Zeit schwimmen und am Strand liegen. Und man braucht nicht gut zu hören: im Wasser ist jeder schwerhörig.“

Weltenbummler. Der kurze Spaziergang am Ostseestrand „Hohe Düne“ nahe Rostock weckt Erinnerungen bei dem Mann, der 2002 aus dem Herzen des Silicon Valley von Kalifornien nach Europa kam. Ein hauptberuflicher Rettungsschwimmer ist aus ihm nicht geworden. Ein Retter schon: für abertausende Menschen, die – so wie Geoffrey – schlecht hören. Und auch für ihn selbst.

Patientengespraech_Soundbridge2Frischoperiert. Dass er jetzt wahrnimmt, wie die kräftigen Böen die Wellen mit Getöse den Strand hochtreiben, liegt an einem kleinem Implantat, das ihm vor wenigen Wochen in der Uniklinik Rostock hinter dem Ohr eingepflanzt worden ist – und das er selbst mitentwickelt hat.

Folgenschwer. „Ich muss etwa fünf Jahre alt gewesen sein, als das Glockenspiel der große Standuhr im Hausflur meiner Tante für mich verstummte“, berichtet der Erfinder der „Vibrant Soundbridge“. „Durch mehrere folgenschwere Mittelohrentzündungen mit hohem Fieber, die mit Antibiotika behandelt worden waren, hatte ich mein Gehör größtenteils verloren.“

Diagnose_HoertestUnwiederbringlich. Geoffrey Ball ist kein Einzelfall. Auch in Deutschland treten Hörverluste in jedem Alter auf. Experten schätzen, dass aktuell hierzulande eine halbe Million Kinder und Jugendliche schlecht hören. Entweder durch Infekte bzw. Fehlbildungen oder auch Lärm kann das junge Gehör zerstören.

Stigma. „Beim Hörtest sah die Frequenzkurve meines Audiogramms aus, als hätte Krümmelmonster ein Stück rausgebissen. Wegen einer Einschränkung von 75 Dezibel brachten Hörgeräte leider keine Besserung“, so Geoffrey Ball. „Im Gegenteil: in der Schule fühlte ich mich stigmatisiert. Der Klang war unangenehm laut und völlig verzerrt. Was meine Eltern, die Lehrerin oder meine Freunde sagten, konnte ich trotz der klobigen Geräte nicht besser verstehen. So wurde ich Meister in der Kunst des Lippenlesens.“

Experte_ProfRobertMlynskiGrenzen. Das Wissen, dass Hörgeräte – allen Fortschritts zum Trotz – nur begrenzt helfen können, teilt auch Professor Robert Mlynski, international anerkannter HNO-Spezialist: „Bei leichteren bis mittleren Hörverlusten ist die rein akustische Verstärkung von Tönen – wie beim Lautsprecher – sicher sehr hilfreich. Doch wenn Töne im Charakter oder Sprache nicht mehr differenziert wahrgenommen werden, hilft ,lauter’ nicht weiter. Wir schätzen, dass von den bis zu 20 Millionen Schwerhörigen hierzulande etwa zehn Millionen eine Hörhilfe benötigen. Doch nur die Hälfte besitzt ein Hörgerät. Davon wiederum wandert jedes zweite System aus Unzufriedenheit in die Schublade.“

Perspektive. Zu gut für einen Innenohr-Ersatz (Cochlea-Implant), zu schlecht für ein Hörgerät – Geoffrey ist 15, als er beginnt, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Und während in den Nachbargaragen des Silicon Valley die ersten Apple-Computer zusammengesetzt werden, fragt er seinen HNO-Arzt, was die moderne Medizin tun kann. „Ich erfuhr von neuen Ideen und Forschungen und begrub meinen Berufsplan vom Rettungsschwimmer. Fortan wollte ich Ingenieur werden.“

Erfinder_Labor2Experimente. Nach Abschluss des Technikstudiums gelang es dem unglaublich kreativen Mann, tatsächlich an der renommierten Stanford University in dem Labor anzufangen, wo an den Grundlagen für ein neues, implantierbares Hörgerät geforscht wurde.

Filmreif. Die nächsten Jahre könnten als Stoff für Hollywood dienen: unzählige Abende verbringt Ball in seinem Elektroniklabor und experimentiert an einem neuen Signalwandler, der nicht wie ein Hörgerät übers Außenohr und nicht wie das Cochlea-Implant übers Innenohr funktioniert, sondern im Mittelohr ansetzt.

Experte_Soundbridge2Entdeckung. Eines späten Abends, nach vielen Fehlversuchen, stößt er wie durch ein Wunder auf die Lösung – den Floating Mass Transducer (FMT). Er gründet das Start-Up „Symphonix“, lässt 1993 seine Erfindung patentieren.

Abkürzung. „Das neue, implantierbare Hörgerät macht Geräusche nicht einfach lauter, sondern wandelt Schallwellen in mechanische Bewegung um“, erklärt Professor Mlynski den Vorteil der Erfindung. „Durch Umgehung des Trommelfells und über den Direktkontakt zu den Gehör-knöchelchen werden Verzerrungen vermieden. Der Klang wird natürlicher und besser.“

Aufgabenteilung. Mikrofon und Soundprozessor sind dabei separat vom Implantat außerhalb des Körpers in einem kleinen Steuergerät untergebracht. Dies wird per Magnet oberhalb des Implantats befestigt und sendet zu ihm die Signale durch die Haut. Über ein langes Kabel ist dieses mit dem FMT im Mittelohr verbunden.

Erfinder_Lautsprecher2Natürlich. „Elektrische Impulse bringen das Herzstück zum Schwingen. Per Titanclip ist der FMT mit einem der drei zwischen drei und neun Millimeter winzigen Gehörknöchelchen verbunden und setzt so Hammer, Amboss oder Steigbügel in Bewegung“, so Prof. Robert Mlynski. „Dank dieses Direktantriebs arbeitet die Soundbrigde im breiten Frequenzbereich von bis zu 8000 Hertz – und erhält die Klangqualität von Sprache und Tönen.“

Schonend. Da der Gehörgang nicht verschlossen wird, gibt es keine Entzündungen. Das System funktioniert auch beim Sport. Zudem ist es komplett reversibel. Es ist seinem Erfinder besonders wichtig, „dass keine Strukturen im Ohr zerstört werden. Ist es nicht in Betrieb, hört man wieder so, wie vorher“, berichtet er aus eigener Erfahrung, nachdem ihm Ende der 90er Jahre ein Vorläufer implantiert wurde.

Erfinder_MedEL-Zentrale2Happy End. „Der ganze Weg aus den Labors in die Operationssäale der Welt war für meine Firma leider zu weit. Um meine Idee zu retten, siedelte ich deshalb 2002 mit der Familie nach Innsbruck über. Eine der führenden Firmen für Cochlea-Implantate hatte mir angeboten, mein Mittelohrimplantat weiter zu entwickeln. Inzwischen ist die Vibrant Soundbridge das erfolgreichste Mittelohrimplantat weltweit. Zehntausende Menschen hören dank meiner Erfindung wieder besser.“

Eingriff_MikroskopUpdate. Als 2015 die neueste, bei 1,5 Tesla Kernspin-sichere Implantat-Generation auf den Markt kommt, beschließt Geoffrey, sich noch einmal operieren zu lassen – „dafür wandte ich mich an die Universitätsmedizin Rostock mit der ältesten HNO-Klinik Deutschlands.“

Routine. „Die Implantation ist für erfahrene HNO-Chirurgen inzwischen eine Standardoperation“, erklärt dort Klinikchef Mlynski. Der 42jährige ist an der Entwicklung der neusten Klammer beteiligt, mit dem der FMT-Wandler an der Gehörknöchelchenkette angeclipt wird. „Der Eingriff wird unter Vollnarkose oder – auf Wunsch –unter lokaler Betäubung durchgeführt“

Soundbridge_AktivierungAnpassung. Als die Naht verheilt und die Schwellung zurückgegangen ist, kommt vor wenigen Wochen der spanende Moment, in dem die Soundbridge durch das Anlegen des Audioprozessors aktiviert wird. „Der Akustiker passte das Steuergerät so an, dass mein Hörverlust optimal ausgeglichen wurde.“

Erfinder_Soundbridge3Neu. Geoffrey Ball ist mit dem Ergebnis der Operation sehr zufrieden. „Noch nie habe ich das Singen der Vögel so kristallklar gehört, nie gewusst, wie laut Wind wirklich ist. Auch Musik und die Präsenz der Stimmen, auch der eigenen, sind deutlich angenehmer.“

Gefühl. Am Ziel angelangt sieht sich der Technische Direktor des Vibrant MED-EL Teams allerdings noch lange nicht. „Es ist ein unbeschreiblich gutes Gefühl, anderen Menschen dabei zu helfen, das Leben in all seinen Facetten genießen zu können. Daran arbeite ich gerne weiter“. Und mit seinem typischen Schmunzeln ergänzt er: „Als Rettungsschwimmer bin ich inzwischen ein bisschen zu alt…“

Drei Fragen an Prof. Dr. Robert Mlynski (42), Direktor der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie „Otto Körner“ der Universitätsmedizin Rostock

Experte_OhrmodellWas ist das Neue an dem Soundbridge-Hörimplantat? Die Soundbridge eröffnet neue Wege des Hörens für Menschen, bei denen ein normales Hörgerät aus medizinischen Gründen nicht verwandt werden kann oder zu keiner Verbesserung des Hörvermögens beiträgt. Dies ist häufig der Fall bei einem bleibenden Hörverlust nach Mittelohroperationen oder wenn Hörgeräte aufgrund dauerhafter oder wiederkehrender Gehörgangsentzün-dungen nicht getragen werden können. Die  Soundbridge kann sowohl bei leichter bis hochgradiger Innenohrschwerhörigkeit, als auch bei Schallleitungs- oder kombiniertem Hörverlust angewendet werden.

Image_MED-EL_Vibrant Soundbridge System 02Wie funktioniert das System? Zuerst wird Schall vom Mikrofon des Audioprozessors aufgenommen. Der Audioprozessor wird durch einen Magneten über dem Implantat gehalten und wandelt den Schall in elektrische Signale um. Diese Signale werden dann durch die Haut an das Implantat übertragen. Das Implantat leitet die Signale weiter an den FMT (Floating Mass Transducer).
Das Herzstück des Systems wandelt das Signal im Mittelohr in mechanische Schwingungen um und versetzt so die Gehörknöchelchenkette direkt in Bewegung. Diese Schwingungen werden ans Innenohr weitergeleitet und als akustische Signale wahrgenommen.

Eingriff_Mikroskop7Was kostet der Eingriff? In Deutschland hat jeder Mensch auf Grund unseres Sozialgesetzbuches einen Anspruch auf Behinderungs-ausgleich. Kann eine Hörminderung mit herkömmlichen Hörgeräten nicht ausgeglichen werden und kann von diesem System ein Behinderungsausgleich erwartet werden, ist die Implantation einer Vibrant Soundbridge eine Leistung der Krankenkasse. Im Einzefall ist Rücksprache des behandelnden Arztes mit der Krankenkasse nötig.

SchneckeWunderwerk Gehör

Das sprichwörtliche Gras können wir zwar nicht wachsen hören – dennoch ist unser Gehörsinn eine hochspezialisierte Antenne zur Außenwelt. Stimmen, Geräusche, Musik – alle akustischen Reize werden in der Hörschnecke in elektrische Impulse umgewandelt, die anschließend vom Gehirn „interpretiert“ werden.

Dabei ist das Ohr unser sensibelstes, genauestes und auch leistungsfähigstes Sinnesorgan. Während das Auge zum Beispiel gerade mal von 384 (violett) bis 789 THz (rot) „frequenzverdoppelnd“ sieht, überspannt unser Ohr den tausendfachen Bereich ein Frequenzband der wahrnehmbaren Schallwellen von 20 bis 20000 Hertz.

Erfinder_Haarzellen_Modell3Auch bei der „Tastempfindlichkeit“ liegt das Ohr uneinholbar vorn. Vergleicht man den hörbaren Schalldruck von 0 bis 140 Dezibel mit der maximalen Belastbarkeit einer Waage, so müsste diese von einem Milligramm bis 1000 Tonnen genau anzeigen.

Gekrönt wird das Ganze mit einer absolut genialen 3-D-Hörfunktion, die uns leider oft erst bewusst wird, wenn wir auf sie verzichten müssen. De Facto nimmt das Hörzentrum im Gehirn alles über 10 Millisekunden Delay (Laufzeitunterschied zwischen dem rechten und dem linken Ohr) als Versatz wahr und errechnet daraus eine dreidimensionale Hörwelt. Im Dschungel der Großstadt können wir sehr genau hören, nicht nur ob ein Auto auf uns zu kommt oder sich von uns wegbewegt, sondern auch ob es schnell oder langsam ist.

Hintergrund „Schwerhörigkeit“

Soundbridge_Aktivierung3Fast 20 Millionen Deutsche haben eine Hörminderung. Und das hat nichts mit dem Alter zu tun. Bereits jeder zehnte Jugendliche ab 14 weist einen Hörschäden auf. Und jährlich erkranken 15000 Bürger an akuter Schwerhörigkeit.

Lärm bedroht am stärksten den empfindlichen Hörsinn. Gefahrenquellen sind Straßenverkehr oder Baustellen, Konzerte, MP3-Player, aber auch unauffällige Dauerlärmquellen wie Haushaltsgeräte, Rasenmäher oder Computer. Am Ende zählt gerade die Summe der Geräusche: Hörzellen verkraften Stunden lang Lautstärken bis zu 85 Dezibel, doch bei 100 reicht eine Stunde, um sie zu zerstören.

Brandung_Ostsee3Gönnen Sie dem Ohr angemessene Ruhepausen, wenn‘s besonders laut war. Schalten Sie störende Hintergrund-geräusche ab und vermeiden Sie laute Knallgeräusche. Leider nehmen viele Menschen Hörschäden hin, ohne aktiv zu werden. Oft dauert es zehn Jahre oder länger, bis ein Hörgeschädigter den Experten aufsucht. Das Problem: Wer schlecht hört, dreht die Lautstärke hoch und schädigt das Ohr noch mehr. Lassen Sie Ihr Gehör regelmäßig alle zwei Jahre vom Fachmann kontrollieren, dann entgehen Sie diesem Teufelskreis.

Schnelltest: Wie gut hören Sie?

Verordnung41.Fällt es Ihnen schwer, jemanden zu verstehen, der Sie von hinten oder von der Seite anspricht?
2.Beschweren sich andere Menschen manchmal darüber, dass Sie Ihr Radio oder Ihren Fernseher zu laut stellen?
3. Ist es Ihnen schon passiert, dass Sie ein herannahendes Auto erst im letzten Moment gehört haben?
4. Überhören Sie gelegentlich den Wecker oder das Telefonläuten?
5. Sie haben Schwierigkeiten fremde Menschen am Telefon zu verstehen?

Auswertung:

Leider kann schon bei einer positiven Antwort Ihr Hörvermögen vermindert sein. Es wäre gut, wenn Sie einen professionellen Hörtest beim Hörakustiker oder Hals-Nasen-Ohrenarzt machen würden, um die Situation realistisch einzuschätzen.

Mehr Infos

Uniklinik_Rostock2Klinik-Kontakt

Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-chirurgie „Otto Körner“, Doberaner Straße 137-139, 18057 Rostock, Sekretariat Prof. Mlynski: 0381/494-8301, Internet: https://hno.med.uni-rostock.de

Therapie und Klinik-Info

MED-EL Deutschland GmbH, Moosstraße 7, 82319 Starnberg, gebührenfreie Hotline: 0800 0077030, Internet: www.medel.de

Infos Schwerhörigkeit

Initiative gegen Hörverlust, Internet: www.beat-the-silence.org

Hinweis: bei der vorgestellten Patienten-Reportage handelt es sich um einen Einzelfall. Der individuelle Behandlungsbericht erhebt nicht Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Bitte beachten Sie, dass meine Artikel in keinem Fall den Besuch beim Arzt ersetzen. Dieser Blog dient allein der medizinjournalistischen Information.

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About André Berger

Geboren in Hamburg. 1986-1990 freier Reporter. 1991 Redakteur Heinrich Bauer Verlag. Seit 1992 freier Medizinreporter Meine Arzt- & Patienten-Reportagen (Text & Fotos) erscheinen regelmäßig in den großen, wöchentlichen Publikums- und Frauenzeitschriften des Burda-Verlags, der Funke-Gruppe und des Bauer Verlages